Immer wieder treffe ich Menschen, die mir mit leisem Stolz und oft ungefragt lächelnd erzählen, dass sie Leher sind. Dort geboren und aufgewachsen oder immer noch oder neu dort leben. Anfangs habe ich das nicht verstanden, aber inzwischen weiß ich selbst: Lehe macht immer noch süchtig.
Es beginnt mit dem “shabby” Goethequartier, die turbulent multikulturelle Hafenstrasse ist ein solides Mittel gegen miefige Langweile und das große, umfassende Lehe mit seiner gnadenlosen Vielfalt einer echten Hafenstadt zieht in den Bann. Lassen Sie uns ergründen, warum das so -oder nicht mehr so ist.
So fing alles an.
Zur Gründungszeit des Hafengebiets Bremens 1827 gab es an der Stelle des ersten Hafens lediglich ein großräumig sumpfiges und sehr niedrig liegendes Feuchtwiesengebiet direkt an der Weser und der geschützten Mündung der kleinen Geeste.
Aber schon lange vor dem ersten Spatenstich am Hafen, also mindestens seit 1273, gab es das große Dorf Lehe, das 2023 seinen 750. Geburtstag begeht. Fast drei Kilometer vom zukünftigen Hafengebiet entfernt und oben auf den Ausläufer einer bis zu 30 Meter hohen eiszeitlichen Erhöhung gebaut, denn so war es seit dem frühen Mittelalter sicherer vor den Sturmfluten und Überschwemmungen der Weser und der nahen Nordsee.
Lehe hatte eigene Anlegestellen für Boote und Lastenkähne an der Geeste. Wegen der von diesen vor der See geschützten Liegeplätzen entstanden von Lehe aus Handelswege in den Osten nach Otterndorf und Stade sowie zum später erst noch entstehenden Cuxhaven. Es ergänzten sich die privilegierten Freiheiten der Einwohner Lehes gegenüber den umliegenden Obrigkeiten hin zum stabilen Wohlstand der Versorgung und Bildung der Bevölkerung nebst der sehr entwickelten Organisation des täglichen Lebens.
Lehe entwickelte sich dadurch bald zu einem unabhängigen „Flecken“ im Sinne einer Minderstadt mit seiner eigenen Gerichtsbarkeit durch das Leher Gericht um 1400, eigenem Marktrecht, Schulen, Kirche und der heute noch vorhandenen und 1680 erbauten „Privilegierten Apotheke“. Aber schon 1613 gab es in Lehe 47 Brauer, 10 Weinbrenner, 5 Bäcker, einen Kramer und drei Schneider.
In 1801 erlitt Lehe einen umfassenden Stadtbrand und somit datieren nahezu alle wieder errichteten Gebäude samt der Dionysuskirche erst nach diesem Zeitpunkt des Wiederaufbaus.
Lehe ist ein sehr großes, ehrliches Freilichtmuseum zur Entwicklung von Stadtkultur.
Lehe wurde die Mutter Bremerhavens.
Als das eigentliche Bremische Hafengebiet an der Weser schließlich 1827 gegründet wurde, startete dieses sogleich in eine Zeit des geradezu atemlos, sich selbst ständig übertreffenden Wachstums des Seehandels mit der Welt. Die Hafenbecken waren schon kurz nach der Fertigstellung zu klein, wurden erweitert oder in immer größeren Varianten an der Weser entlang neu gebaut. Aber das sehr schmale und fast bananenförmig parallel zu den neuen Häfen zeitgleich neu erbaute und eher sehr kleine Bremische Wohngebiet (heute Bremerhaven Mitte) war jedoch zu keinem Zeitpunkt in der Lage, dem Zustrom des ebenfalls fulminant wachsenden Bevölkerungsanteils der Familien der in den ständig erweiterten Häfen arbeitenden Menschen Platz und Wohnraum zu geben.
So wurde Lehe dann Geburt, Wachstum und Lebenshilfe der Bremischen Hafenstadt, ohne die diese schon in den Anfängen jämmerlich am Mangel von zivilisiertem Stadtleben erstickt wäre, denn zu einer Hafenstadt gehören schon immer neben den Häfen als Wirtschaftsraum die Stadt selbst als Lebensraum für die Bewohner - wie zwei Seiten einer Medaille.
Also wuchs Lehe über die vom in Lehe beerdigten Wasserbauingenieur Jacobus Johannes van Ronzelen geplante Verbindungschaussee, die heutige Lange Straße und Hafenstraße, den Bremischen Hafengebieten entgegen und entwickelte sich damit einhergehend mit seinen Stadtteilen Lehe und Klußhof zu beeindruckender Größe, Schönheit und Lebendigkeit.
Lehe spendierte auch mit dem Loscheturm die Wasserversorgung des Hafengebiets sowie der Schiffe selbst, Lehe ließ die Schüler Bremens in seine Schulen und Lehe baute das erste Krankenhaus. Lehe beherbergt bis heute drei Friedhöfe. Lehe wurde mit seiner sich immer prachtvoller entwickelnden Hafenstraße zum Einkaufs-, Kneipen-, Restaurant- und Kulturzentrum mit sechs Kinos und großen, mehrstöckigen Kaufhäusern das städtische Zentrum der zukünftigen Hafenstadt mitsamt dem bis heute eigenen Bahnhof Lehe.
Schließlich fuhr seit 1881 die ehemalige Pferdebahn später als elektrische Straßenbahn, die die wichtigsten Stadtteile Bremerhavens miteinander und mit der Hafenstraße verband.
In Lehe gab es alles!
Und wer etwas auf sich hielt, wohnte selbstverständlich im prachtvollen Lehe inmitten größter Aufenthalts- und Lebensqualität: In der Hafenstraße wohnte bürgerliche Mittelschicht wie Unternehmer, Kaufleute, Akademiker, Freiberufler, Marineoffiziere, Ingenieure, Kapitäne und Oberstewards und in den benachbarten Quartieren lebten Arbeiter mit Angehörigen sowie Handwerker und Meister sowie die seefahrenden Berufe.
Lehe mit seinem Goethequartier und der Hafenstraße war bis in die siebziger Jahre für die Bremerhavener der unerklärte Nabel der Welt und Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens der Hafenstadt.
Gepflegte Romantik und Shabby Chic liegen in der Altstadt Lehe oft dicht nebeneinander.
Warum ist das nicht mehr so?
In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts begann das wohlhabende Bremerhaven seine im zweiten Weltkrieg zerbombten Bereiche im Gründungsbereich des Alten Hafens zu planen und zur „Neuen Mitte“ zu erklären. Hauptsächlich wollten die Verantwortlichen große Einkaufsketten wie Karstadt und C&A gewinnen, und als Zubringerstraße fungierte die später zur Fußgängerzone umfunktionierte neue Einkaufsstraße - letztlich eine wenig prachtvolle Aneinanderreihung von kleinen Dienstleistern in unansehnlich gleichförmigen Bauten der Nachkriegszeit.
Die Neue Mitte, die bis heute nie zur wirklichen Mitte wurde, wurde somit das Ende des alten Lehe.
Die Veränderung durch den stadtplanerischen Umbruch der aus dem Boden gestampften Neue Mitte entriss dadurch dem gewachsenen gesellschaftlichen Leben des einstigen Boulevards Hafenstraße auf tragische Weise die wirtschaftlichen Grundlagen. Die Folgen: Viele Kaufleute, die einst die Magneten Lehes waren, gaben auf oder wanderten ab. Alle sechs Kinos sowie die Diskotheken machten dicht. Die Gaststätten und Cafés verloren ihre Kunden. Und als ebenfalls fataler Abschluss der brachialen Umstrukturierung wurde die beliebte Straßenbahn abgebaut.
Das einst prachtvollen Lehe war zum Patienten geworden, dessen wichtigste Organe am Ende der Operation entnommen waren. Lehe hatte der dann folgenden Werften- und Fischereikrise Bremerhavens einschließlich den daraus folgenden Änderungen der Einwohnerstruktur keinerlei wirtschaftliche oder kulturelle Widerstandskraft mehr entgegenzusetzen.
Bisher gibt es keinen Plan der städtebaulichen Heilung dieser großen Wunde namens Hafenstraße und Lehe.
Mittlerweile gab es zwar eine durchaus beeindruckende Vielzahl an städtebaulichen Studien zur Lösung einzelner Probleme, für deren Umsetzung aber selten die dafür notwendigen Gelder bereitgestellt werden. Realisiert wurden lediglich einige kosmetische Korrekturen.
Viele Behörden samt Stadtverwaltung sowie der größte Medienbetrieb der Region residieren nach wie vor in Lehe. Einzelne Betriebe investieren teilweise hohe Summen in die Erweiterung ihres Standortes in Lehe. Eine Vielzahl von engagierten Ladenbesitzern und Eigentümer der Wohnimmobilien lassen ebenfalls nicht locker.
Jedoch für die in Zukunft schon jetzt wirksam beginnende drastische Änderung des Einkaufsverhaltens der jüngeren Generation und die damit einhergehenden sich mehrenden Leerstände von Läden gibt es in Bremerhaven keine stadtplanerische Strategie im Sinne alternativer Nutzung.
Dies liegt nicht an mangelnder Kompetenz oder fehlendem Willen der Stadtplaner, der Quartiersmeistereien oder Standorteigentümergemeinschaften sowie Stadtteilkonferenzen der Einwohner. Es liegt an den politischen Entscheidern, die eher auf wahlkampforientierte sowie medial wirksame Groß- und Neubauprojekte sowie weiterhin nur auf das veraltete Mantra von Abriss und Neubau setzen.
Dabei wäre die Pflege und Wiedererstarkung der im Kern sehr attraktiven Altstadt Lehe mit zukunftsorientierten Konzepten für Bauen im Bestand sinnvoll, machbar und sicherlich mit weniger Mitteln finanzierbar. Andere Großstädte haben schon länger erfolgreich erkannt, dass sie - um junge Stadtbewohner zu halten und neu zu gewinnen - die Innenstädte radikal mit Wohn- und Aufenthaltsqualität statt mit Parkplätzen und breiten Straßen füllen müssen.
Die Menschen, die in den Städten leben, möchten diese für sich zurückhaben.
Dies wäre auch lohnend für alle Beteiligten, denn es gibt in Bremerhaven unter anderem 3.000 Mitarbeiter der wissenschaftlichen Institute, 150 Mitarbeiter der Hochschule und 3.000 Studenten, die aber zum größten Teil Bremerhaven als Wohnstadt mangels Lebensqualität eher meiden. Denn die hauptsächlich für den Kurzzeittourismus gebaute Infrastruktur in der Hafenwelt als Angebot der dauerhaften Freizeitgestaltung für junge Menschen ist nach wenigen Nachmittagen abgefrühstückt. Und immer nur auf den Deich oder in die Hafenwelt zu gehen ist nur manchmal schön und innerhalb der vier langen Wintermonate eher selten.
Bremerhaven hat sehr wenig Kneipen- oder Cafészene für Studenten, keine Clubs für junge Menschen und in der Alten Bürger als dem einzigen entspannten Ort mit Kultur und Kneipen verkehrt eher die Generation Wally, also die Bremerhavener ab Fünfzig aufwärts. Und samstags kommen die, die zuvor im Stadttheater waren.
Die grausame Quittung.
Für 2023 wird in dem großen Onlinemedium für lohnenswerte Reiseziele meineorte.com in einer Auflistung der hässlichsten 27 Städte Deutschlands Bremerhaven als Nummer 6 ganz vorne aufgeführt. Mehr unnötige Quittung für die Verantwortlichen ist kaum möglich und ich vermag der Redaktion keinen Vorwurf zu machen, wenn die Stadt selbst ihren schönsten, wildesten und vielfältigsten Stadtteil, den eine stolze Hafenstadt haben kann, so folgenreich verschweigt und tabuisiert.
Stattdessen gibt es beispielsweise die medienwirksame Planung des neuen “Werftquartiers” beim Fischereihafen: “Ein lebendiges neues Stadtviertel soll entstehen” und “Für das insgesamt 140 Hektar umfassenden Areal ist Vielfalt geplant, soll eine Mischung aus Wohnen und Arbeiten, Kultur und Freizeitaktivitäten realisiert werden” - so der vielversprechende Werbetext der Verantwortlichen Bremerhavens.
Zurück bleibt Bremerhavens wunderschöne, verarmte, vergessene - aber auch nicht totzukriegende Altstadt Lehe als alter Ort der Herzen.
Februar 2023. Fotografie und Text: Thomas Damson
AMWASSER fotoblog: Leben im Norden. Leben am Wasser. Von Sonne, Wind und anderem. Professionelle Fotografie. Ehrliche Geschichten. Das echte Leben.
Meine Posts zur Hafenstraße und zum Goethequartier.
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