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Eine seltsame Reisende. Aus meinem kurzen Frankfurter Tagebuch.

Wirklich so erlebt. Von mir. In Frankfurt am Main.

Ich war an diesem sich langweilig und grau hinziehenden Wintersonntag etwas über eine Stunde in die Megacity Frankfurt gefahren. Wieder in diese faszinierende und fremdgroße Stadt mit dem ständig pulsendem Leben.


Frankfurt ist groß. Richtig groß. So weit wie es sich breit gemacht hat, so ist es im hoch getürmten Bankenviertel in die Höhe gewachsen. In Frankfurt gibt es alles, dachte ich. Also auf jeden Fall etwas Nervenkitzel für mich in der großen Fremde. Ich wollte nur raus aus meinem geregelten Landleben inmitten der rheinhessischen Weinberge. Vielleicht in eine der vielen großartigen Fotoausstellungen? Eine leckere Kleinigkeit essen? Ich hatte keine feste Vorstellung.

Der Frankfurter Römerberg. Hier fangen alle mit der Stadt an.


Sicherlich fiel ich in meiner neuen und noblen Stadtwinterjacke samt der umgehängten grünschwarzen Recyclingdesigntasche von Freytag etwas auf zwischen den wenigen vielsprachigen Besuchergruppen in farbquietschender und unverwüstlicher Regenkleidung. Sie strömten zum Mainufer nebenan – alle wollen immer erst ans Wasser.

Ich war ein willkommenes Opfer, wie ich bald merken sollte und ich hatte es zudem leichtsinnig versäumt, meine wertvolle Reportagekamera und die Geldbörse in meine diebstahlsichere Stadttasche zu verstauen. Ich hatte sie zuhause gelassen, aber sie hätte mir auch nichts genützt. Ich war fast allein auf dem großen Römerberg neben all den geschlossenen Cafés und Kneipen. Keine Bettler oder Akrobaten heute. Aller waren weg. Und ich war noch ahnungslos von allem, was kommen sollte.

Mein beginnendes Abenteuer stand plötzlich neben mir und sprach mich an, mit leicht schwäbischem Akzent und mir wurde sofort heimatlich warm ums Herz. „Entschuldigung, können Sie mir bitte mal kurz helfen?“ Sie war eine beeindruckende Erscheinung in ihren dunklen Stiefeletten, an deren oberen Rand eines Beins sich eine Laufmasche durch die stilvoll angedeutete Netzstrumpfhose begann nach oben zu kringeln. Ziel war sicherlich der Winterrock unter dem eindeutig abgenutzten Businesswollmantel, den sie leicht aufgeknöpft lies - trotz des kalten Winds auf dem kalten Römerberg. Auch später nahm sie ihren graublauen Mantel immer wieder in die Arme statt auf die Schulter, was ich als aufmerksamer Beschützer sofort fürsorglich zu korrigieren versuchte. Ich war das ideale Opfer.

„Ob ich für sie eben im Adima-Hotel anrufen könnte, sie hätte da ein kleines Problem und würde gerne Bescheid geben?“ Natürlich holte ich mein kleines Galaxy aus der Jackentasche und war mir sicher, das Problem nebenher erledigen zu können. Und der Spätnachmittag könnte seinen Weg nehmen. Aber Google sprach nicht mit mir inmitten der Häuserzeilen, ich fand die Telefonnummer des Hotels also nicht und so wir vertagten das Telefonat.


Sie lud mich zum Kaffee ein. Das war für mich eine ungewöhnliche Geste einer Frau, aber angenehm, wie sie das sagte. Die Ereignisse nahmen ihren Gang. Leicht fröstelnd im mittlerweile sehr dunkelgrauen Winternachmittag war es verlockend, zum Gedankentausch ins Warme zu gehen und auch um mal zu schauen, was der Abend noch bringen könnte.

Mein ruhiges Landleben war gestern. Es war ihr Revier und ich begab mich bereitwillig in ihr Schlepptau Richtung Neue Oper, aber zwischen Hochhäusern, Banken und chinesischen Restaurants schien im Bankenviertel kein Café geöffnet. Also ein ungemütlicher Sonntagnachmittag in der leeren Businessstadt. Wie ausgestorben. Hier wird werktags ständig gegraben und gebaut und auf dem Weg vorbei an den vielen Baustellenzäunen berichtete sie schließlich, aber immer wieder stockend mit Sprechpausen in sichtbarer Erschöpfung, „ihr sie die Geldkarte abhandengekommen und abgesehen davon sei sie als Journalistin in eine sehr bedrohliche Situation geraten, in der sie morgen endlich den letzten Projekttag hätte, um anschließend die Flucht zurück zu den Amerikanern zu versuchen. Aber einige Herren wollten sie tot sehen. Zu nahe sei sie an alles drangekommen.“ Ich war elektrisiert. Ich begann das Pulsen des Blutstroms in meinen Adern zu spüren.


„Sie habe nicht mehr lange zu leben“, sagte sie schließlich gefasst an der letzten Baustelle vor der Neuen Oper und versprach, mir beim Kaffee gleich mehr zu erzählen. Sie war eine Meisterin der Gesprächsführung.

„Sie liebe die Frankfurter Hochhäuser und die moderne Architektur, als Architekturjournalistin habe sie Zutritt zu allem und habe auch schon mit dem Dirigenten der Alten Oper zusammengewohnt, ob ich auch die Oper möge?“ Mir zog sich schon in meiner frühen Kindheit bei all der ausführlichen Liebesdramatik samt den obligatorischen Entführungen und Meuchelmorden bei dramatischer Musik der Magen zusammen – sie sah mir das wohl an und lenkte sogleich taktvoll ab. Ich frage sie verwundert, kurz vor dem rettenden amerikanischen Restaurant angekommen, über ihren Beruf, den sie mit Studium der Umweltpsychologie beschrieb und deshalb sei sie so gerne hier, inmitten der Hochhäuser, wie zuvor schon in Hamburg, Boston und Washington viele Jahre. „Ob ich das auch so liebe wie sie?“


Ich erwähnte meine Vorliebe für alte Gebäude, für Jugendstil, Vintage und so weiter. Jugendstil und Vintage sagte ihr offensichtlich nichts. „Sie habe ein Nachhaltigkeitsmagazin gegründet, dass sie als letzte Tat in den Staaten nur noch schnell übergeben wollte.“

Wir waren mittlerweile angekommen und als ich im Eingangsbereich stehen blieb und in amerikanischem Stil auf das Servicepersonal wartete, ging sie zunächst weiter. Als ich meinte, wir würden sicherlich gleich „be seated“, schaute sie mich den Bruchteil einer Sekunde lang fragend an und wartete dann aber sogleich und irgendwie selbstverständlich neben mir. Sie hatte eine sehr schnelle Auffassung. Wir wurden schließlich auch eindeutig amerikanisch an einen Platz gewiesen und freuten uns über den kleinen Tisch am Fenster, ohne andere Gäste in Nähe. Der Platz war für unsere Geschichte wie gemacht. Die Spannung stieg.

Die Getränke kamen und sie gestand mir „den nahenden Tod, es sei sicher. Sie habe nicht mehr lange zu leben. Journalistinnen im Alter von 50 seien die besten, und allein im letzten Quartal seien deshalb zwei davon rätselhaft früh gestorben, eine wurde ermordet. Bei ihr sei es die Bauchspeicheldrüse. Sie war noch nie krank, nur bei einer kleinen Schulteroperation vor einigen Monaten in einem bekannten Klinikum, das sich später als Teil der Verschwörung herausstellte, danach fing es an. Es waren damals zwei OPs notwendig, und die zweite Anästhesie war mit Sicherheit vergiftet. Es gebe Betäubungsmittel, die gleichzeitig die Bauchspeicheldrüse infizieren und sie habe schon bald bemerkt, als sie eines Morgens schwarzes Urin von sich gab, das Schlimmes auf sie zukam. Die zwangsläufige Selbstdiagnose, sie hätte auch im OP gearbeitet und kenne sich daher aus, war eindeutig. Gut, vielleicht ein Fehler, zu spät andere die Diagnose machen zu lassen, aber ihre Kraft lasse jetzt nach. Es sei zu spät.


Sie habe aber auch kein Vertrauen, der deutsche Klinikkonzern sei Teil eines Baukartells, hinter das sie unbeabsichtigt gekommen sei und sie hätte sich da niemals operieren lassen sollen. Die Herren des Kartells haben überall den Durchgriff.“


Sie hatte mich gründlich am Haken. Sie wusste es. Sie sah es meinem besorgten Blick an. Sie kam auf den Punkt, den ich schon lange erwartet hatte.

„Ob ich hier vierhundert Euro ausleihen könnte, sie könne dann trotz fehlender Geldkarte das Businessapartment mit Blick über den Main im Voraus bezahlen und wir würden dann in Ruhe auf dem Sofa dort über die ganze Geschichte reden und sie wolle mir alles anvertrauen. Sie habe schon ihre Verwandten angerufen, die sie aber nur gefragt hätten, wie sie jetzt schon wieder auf eine solche Geschichte käme und es gäbe nichts von ihnen.“ Ich versuchte mir diesen Satz in Schwäbisch vorzustellen und wiederholte dies mitfühlend grinsend und leicht theatralisch im alten Heimatdialekt. Sie blieb vollkommen unberührt und ohne Lächeln. „Aber sie hätte dafür gesorgt, dass sie schon morgen eine Überweisung bekäme, mit der sie mir sofort mein Geld zurückzahlen würde. Versprochen. Ich solle ihr glauben.“


Da hatte sie mir einen großen Stein um den Hals gebunden. Ich improvisierte und begann ich mit meiner kleinen, aber wahren Geschichte, nur kurz hatte ich die Gelegenheit dazu. „Ich würde ihr gerne sofort helfen, aber meine Gelder seien wegen eines schwebenden Verfahrens seit Ende Dezember geparkt und wären erst zum nächsten Ersten wieder verfügbar.“ Das erste Mal erschien mir ein hoffnungsvolles Leuchten in den schönen Augen der Frau, als sie mich nun zielstrebiger fragte, „ob ich das viele Bargeld denn zuhause aufbewahrt habe und wo ich denn wohne?“ „Nein, ich bin ja nicht so blöde und sammle meine Ersparnisse zuhause, das Geld sei halt bankintern verschoben, aber was ich dabei hätte, reiche sicherlich für eine Essenseinladung.“ Sie ließ nicht locker. Sie wollte immer noch wissen, wo ich wohne. Ich erklärte ihr vergeblich, wo von Frankfurt aus gesehen Rheinhessen oder Flonheim inmitten der Weinberge liegt.


Sie sackte sichtbar in sich zusammen. „Ob ich denn keine Angst vor ihrem Tod habe, ob mir das nichts ausmache?“

Ich wollte ihr so gerne helfen und übernahm deshalb das Gespräch: „Ich kenne den Tod“! Es war jetzt das erste Mal, dass sie sichtlich sprachlos war. Das war meine Gelegenheit: Ich erzählte von meinem Nahtoderlebnis bei einem Autounfall, den ich als junger Mann nur knapp mit zwanzig Schutzengeln überlebte. Eigentlich war ich damals schon tot. Es dürfte mich nicht mehr geben. „Der Tod macht mir keine Angst“, erzählte ich weiter – „er ist mir seither eher ein Freund, nur damals sei es nicht so weit gewesen. Aber das tragische an den letzten Sekundenbruchteilen des Sterbens war im Nachhinein nicht der Tod, sondern die eigentlich tragische Erkenntnis, dass beim Sterben als letztes und wirklich fundamentales Ereignis nur noch das Wort Endgültigkeit zu lernen sei. Endgültigkeit ist letzte Wort mit Bedeutung am Lebensende eines Menschen.“ Ende. Pause. Stille.


Sie schaute mich lange an. Wir schwiegen beide und schauten uns fast zwei Minuten nur an. Dann stand sie entschlossen und kraftvoll auf und meinte, „sie würde jetzt nebenan ins Adima gehen und die Sache erledigen, sie sei in fünf Minuten wieder da.“

Diese wunderbare Sitzgruppe befindet sich im Kunstverein Familie Montez. Er hat aber mit dem Posting nichts zu tun. Es ist ein wirklich schöner Ort in einem ungewöhnlichen Gebäude.


Ich wusste, sie würde nicht wiederkommen. Ich wartete hoffnungsvoll zehn weitere Minuten und bekam mittlerweile zum ersten Mal Empfang auf mein Galaxy. Ich bezahlte schließlich für beide, ließ die Quittung liegen, als letztes Zeichen von mir, falls sie wirklich wiederkäme. Ich vermisste sie schon beim Hinausgehen. Ihre spannende Geschichte und deren unglaubliche Entwicklung, die von nun an mit anderen Männern stattfinden würde. Sie hatte mich verlassen mit dem großen Rätsel um ihre Person. Ich würde auch niemals die viel spannendere Geschichte über ihre eigene Lebenswirklichkeit erfahren. Schade. Ich verliere mich gerne an intelligente Frauen mit Geschichte. Mein Problem.


Der Winterhimmel war mittlerweile nächtlich erloschen, die Straßenschluchten am Fuß der großen Bankenhochhäuser waren taghell ausgeleuchtet und wirkten in der Kälte noch menschenleerer. Mir war das angenehm und mein Puls beruhigte sich.

Ich war noch keine vier Minuten meines Rückwegs zum Parkhaus gegangen, wohlig zugeknöpft mit meiner eleganten Stadtwinterjacke, da stand eine andere und ebenfalls sehr attraktive Fünfzigjährige auf meiner Strecke am Gehweg. Mit dem kastanienrotem, dichtem Haar nicht zu übersehen und in eine dunkelblaue Steppjacke gehüllt, während sie mich schon von weitem aufmerksam beobachtete. Ihren Blick hatte sie jetzt an mich getackert und ließ nicht mehr von mir ab. Als ich auf ihrer Höhe angekommen war, fixierte sie mich, blickte mir mit offensiv, offener Freundlichkeit direkt in die Augen. Sie fragte mit warmtönig lauter Stimme, unüberhörbar und unentrinnbar: „Entschuldigung, können Sie mir bitte kurz helfen?“

Thomas Damson, Mai 2022


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